(Experten-Beitrag von Diana Plange)
Vor dem Hintergrund einer geplanten Novellierung des Tierschutzgesetzes wird in öffentlichen und politischen Debatten zunehmend das Thema Qualzuchten bei verschiedenen Haustierrassen diskutiert.
Europaweites Verbot von Defekt-Merkmalen
Seit 1986 gilt im deutschen Tierschutzgesetz der sogenannte Qualzuchtparagraf § 11b (Verbot von Qualzüchtungen). Das Thema Qualzucht beschäftigte 1987 auch den Europarat und das ‘Europäische Übereinkommen zum Schutz von Heimtieren’ wurde verfasst. Als Jahre später seine Generalklauseln konkretisiert wurden, führte das nicht etwa nur zur Abgrenzung einzelner Zuchtmerkmale (wie z. B. Kurzköpfigkeit oder Zwergwuchs)1. Auch der Ausschluss der Zucht von Tieren mit Semiletalfaktor, rezessivem Gendefekt oder haarlosem Phänotyp wurde beschlossen.
Häufig werden mit dem Begriff Qualzucht Bilder von brachyzephalen (kurzköpfigen) Hunde- oder Katzenrassen oder haarlosen Tieren assoziiert. Zuchtbedingte Defekte (Qualzucht-Merkmale) haben sich in vielen Tierarten etabliert und neben Reptilien, Schlangen, Fischen, Geflügel, Tauben und Ziervögeln sind auch kleine Heimtiere, wie Kaninchen und Meerschweinchen davon betroffen.
Zuchtbedingte Defekte oder Merkmale erhöhen zweifelsfrei das Risiko für gesundheitliche und psychische Beeinträchtigungen betroffener Tiere und können arteigenes Verhalten einschränken. Dabei verbietet das Tierschutzgesetz die Zucht sogenannter Qualzuchten.
Am Beispiel einiger der bei Kaninchen und Meerschweinchen möglicherweise auftretenden qualzuchtrelevanten Merkmale wollen wir über die Auswirkungen auf das Wohlbefinden betroffener Tiere aufklären.
Das Qualzuchtverbot schützt jedes Tier, gleich welcher Art oder Rasse
Im 11. Paragraph des Deutschen Tierschutzgesetzes ist die Zucht von Wirbeltieren geregelt. Die Vorgaben gelten für alle Tiere, somit auch für Kaninchen, Meerschweinchen und weitere kleine Heimtiere. Der § 11b (1) beschreibt das Verbot Körperteile und Organe von Tieren züchterisch so zu verändern dass sie den Tieren selbst oder deren Nachkommen Schmerzen, Leiden oder Schäden verursachen oder erblich bedingte Verhaltensstörungen verursachen. Sie darf außerdem keine Haltung zur Folge haben, die “nur unter Schmerzen oder vermeidbaren Leiden möglich ist oder zu Schäden führt”.
Die Schwelle zum Zucht-Verbot ist (eigentlich) niedrig angelegt. Bereits ein einzelner Schmerz, ein einzelnes Leiden oder ein Schaden genügen, damit das Verbot greift.2
Die züchterische Praxis vermittelt allerdings ein anderes Bild. Beobachtet man die züchterische Praxis im Heimtierbereich, stellt man viele Verstöße gegen das Tierschutzgesetz fest. Hier werden exemplarisch drei Beispiele ausgeführt.
Kaninchen – Schlapp- statt Stehohren
Charakteristisches Merkmal der Kaninchen vom Typ Widder sind die langen, hängenden Ohren.3 Die gezielte Zucht auf dieses Merkmal führte zu Knorpelveränderungen, die die arttypischen Stehohren hängen lassen. Häufige gesundheitliche Probleme und Verhaltenseinschränkungen sind bei Tieren diesen Typs bekannt – und haben dazu geführt, dieses Zuchtziel als tierschutzrelevant einzustufen.
Die veränderte Körperform ist häufig mit Ohren- und Zahnerkrankungen assoziiert. Ohrentzündungen und Sekretansammlungen im Innenohr sind schmerzhaft für die Tiere und beeinträchtigen das Hören. Es konnte beobachtet werden, dass bei dieser Zuchtform Zahnauffälligkeiten signifikant häufiger auftreten. Beispielsweise zeigen die Zähne ein übermäßiges Wachstum. Zahnprobleme führen zu weiteren Folgeerscheinungen wie einer eingeschränkten Futteraufnahme.
Die Ohren spielen bei der Kommunikation mit Artgenossen und anderen Lebewesen eine wichtige Rolle. Je nach Stellung vermitteln sie Entspannung, Angst oder Angriffsbereitschaft. Die hängenden Ohren verhindern diese Verhaltensweisen und schränken die Kaninchen in ihrem alltäglichen Leben ein.4 Bei Schlappohrkaninchen hingegen fällt dieses wichtige Kommunikationsmittel weg, da sie ihre Ohren nur noch eingeschränkt bewegen können.5
Kaninchen – Kurzköpfigkeit (Brachyzephalie)
Brachyzephale, also kurzköpfige Rassen, werden wie bei Hunden, Katzen und anderen Tierarten auch bei Kaninchen gezüchtet.6 Grund ist das gewünschte „Kindchenschema” – runder Kopf, kurze Nase und große Augen. Die Schädelform ist stark verändert und knöcherne Strukturen der Nase und des Kiefers können verkürzt sein.7,8
Die Kurzköpfigkeit führt zu Kieferveränderungen, die unter anderem Zahnerkrankungen begünstigen. Da die Zähne von Kaninchen lebenslang wachsen, führt dies zu massiven Problemen. Ein physiologischer Abrieb der Zähne fehlt oder ist mangelhaft, weil die Zähne nicht korrekt angeordnet sind. Das beeinträchtigt die Futteraufnahme und erfordert medizinische Zahnkorrekturen.9,10 Bei allen kurzköpfig gezüchteten Tieren können ähnliche Symptome der Atemwege beobachtet werden wie sie bei kurzköpfigen Hunden beobachtet werden.11,12,13 Das brachyzephale obstruktive Atemwegssyndrom (BOAS) beschreibt verschiedene Auffälligkeiten, die durch die Kurzköpfigkeit verursacht werden können. Betroffene Tiere weisen beispielsweise verengte Nasenlöcher und -muscheln auf, wodurch sie nur erschwert atmen können. Neben der behinderten Atmung die sich durch Schnarchgeräusche äußern können, leiden die Tiere unter eingeschränkten Hitzetoleranz.14,15,16
Meerschweinchen – Nacktmeerschweinchen (Baldwin)
Neben einer ganzen Reihe von problematischen zuchtbedingten Veränderungen der Fellstruktur führte die Zucht bei der Meerschweinchenrasse „Baldwin” gezielt zu einer tierschutzwidrig fehlenden Behaarung.17 Die Regulation der Körpertemperatur (Thermoregulation) ist bei diesen Tieren eingeschränkt. Durch den fehlenden Witterungsschutz können sie nicht, wie andere Meerschweinchen, draußen leben.18,19
Den Tieren fehlen neben der allgemeinen Körperbehaarung auch die Vibrissen („Tasthaare”) und dadurch ein wichtiges Sinnesorgan. Mit ihrer Hilfe können sie sich räumlich orientieren und kommunizieren. Je nach Stellung drücken sie damit beispielsweise Aggressionen oder Schmerzen aus.20 Nackte Meerschweinchen sind nicht dazu in der Lage. Sie können sich im körpernahen Bereich nur stark eingeschränkt orientieren und das Futter erschwert untersuchen.21,22
Wer ist verantwortlich für eine tierschutzgerechte Zucht von Tieren?
Gerade im Bereich der Heimtierhaltung kommt der Aufklärung der Bevölkerung und zukünftiger Tierbesitzer eine besondere Bedeutung zu. Der Umgang und die Fürsorge für Tiere befördert bekanntermaßen die Empathiebildung von Kindern. Deshalb sollte sicherlich die Aufklärung nicht nur über tierschutzgerechte Haltung sondern eben auch über die Biologie, Bedürfnisse und Verhaltensweisen von Tieren an Ihre Umgegung, ein wichtiger Bestandteil schulischer und vor-schulicher Bildung sein.
Dann würden sicherlich wesentlich weniger Menschen auf die Idee kommen sich Tiere anzuschaffen, die ihr Leben lang unter den Auswirkungen zuchtbedingter Defekte leiden müssen.
Über die Autorin: Diana Plange, Fachtierärztin für Tierschutz und Tierschutzethik; Projektleitung QUEN. Für weitere Informationen können Sie QUEN (Qualzucht-Evidenz Netzwerk) per E-Mail info@qualzucht-datenbank.eu kontaktieren.
-
Quellenangaben
1. Europäisches Übereinkommenzum Schutz von Heimtieren (Art.5) und Resolution
2. Hirt, A., Maisack, C., Moritz, J. & Felde, B. (2023). Tierschutzgesetz Kommentar. Verlag Franz Vahlen, München. S. 602f.
3. Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz (TVT) (2019). Merkblatt Nr. 157 - Heimtiere: Kaninchen.
4. Qualzucht-Evidenz Netzwerk (QUEN) (2023). Merkblatt Kaninchen Typ Widder.
5. Plange (2022) Gutachterliche Stellungnahme zur Verwendung von lebenden Kaninchen als Statisten in einem Theaterstück im Auftrag der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht (DJGT).
6. Meola, S. D. (2013). Brachycephalic airway syndrome. Topics in companion animal medicine, 28(3), 91-96.
7. Böhmer, C., & Böhmer, E. (2017). Shape variation in the craniomandibular system and prevalence of dental problems in domestic rabbits: a case study in evolutionary veterinary science. Veterinary sciences, 4(1), 5.
8. Furler-Mihali, A. (2019). Qualzucht bei Kaninchen & Co.. 7. Heimtiertagung “Extremzuchten bei Heimtieren - vielfältig, komplex und oftmals leidvoll” des Schweizer Tierschutz STS, 18.10.2019 in Olten.
9. Böhmer, E. (2003). Extraktion von Schneidezähnen bei Kaninchen und Nagern–Indikationen und Technik. Tierärztliche Praxis Ausgabe K: Kleintiere/Heimtiere, 31(05), 51-62.
10. Böhmer, C., & Böhmer, E. (2017). Shape variation in the craniomandibular system and prevalence of dental problems in domestic rabbits: a case study in evolutionary veterinary science. Veterinary sciences, 4(1), 5.
11. Harvey, N. D., Oxley, J. A., Miguel-Pacheco, G., Gosling, E. M., & Farnworth, M. (2019). What makes a rabbit cute? Preference for rabbit faces differs according to skull morphology and demographic factors. Animals, 9(10), 728.
12. Richardson, V. C. (2008). Rabbits: health, husbandry and diseases. John Wiley & Sons.
13. Hedley, J., Ede, V., & Dawson, C. (2022). Retrospective study identifying risk factors for dacryocystitis in pet rabbits. Veterinary Record, 191(5).
14. Geiger, M., Schoenebeck, J. J., Schneider, R. A., Schmidt, M. J., Fischer, M. S., & Sánchez-Villagra, M. R. (2021). Exceptional changes in skeletal anatomy under domestication: The case of brachycephaly. Integrative Organismal Biology, 3(1), obab023.
15. Meola, S. D. (2013). Brachycephalic airway syndrome. Topics in companion animal medicine, 28(3), 91-96.
16. Dupré, G., & Heidenreich, D. (2016). Brachycephalic syndrome. Veterinary Clinics: Small Animal Practice, 46(4), 691-707.
17. Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz (TVT) (2020). Merkblatt Nr. 159 - Heimtiere: Meerschweinchen.
18. Furler-Mihali, A. (2019). Qualzucht bei Kaninchen & Co.. 7. Heimtiertagung “Extremzuchten bei Heimtieren - vielfältig, komplex und oftmals leidvoll” des Schweizer Tierschutz STS, 18.10.2019 in Olten.
19. Meerschweinchenwiese (2023). Was ist eine Qualzucht beim Meerschweinchen?. zuletzt abgerufen am 26.09.2023.
20. Grant, R. A., & Goss, V. G. (2022). What can whiskers tell us about mammalian evolution, behaviour, and ecology?. Mammal Review, 52(1), 148-163.
21. Furler-Mihali, A. (2019). Qualzucht bei Kaninchen & Co.. 7. Heimtiertagung “Extremzuchten bei Heimtieren - vielfältig, komplex und oftmals leidvoll” des Schweizer Tierschutz STS, 18.10.2019 in Olten.
22. Haidarliu, S., & Ahissar, E. (1997). Spatial organization of facial vibrissae and cortical barrels in the guinea pig and golden hamster. Journal of Comparative Neurology, 385(4), 515-527.