Es gibt verschiedene Formen der Aggression, die nach ihrer Intention eingeteilt werden:
1. Territoriale Aggression
Territoriale Aggression tritt innerhalb des eigenen Territoriums auf. Außerhalb dieses Gebiets kann sich der Hund unauffällig im Kontakt mit fremden Menschen oder Hunden zeigen. Bei dieser Form der Aggression geht es um die Verteidigung eines Ortes, wie beispielsweise der eigenen Wohnung, des Gartens oder sogar einer Parkbank. Die Dauer bis zur „Inbesitznahme“ ist individuell und kann von Minuten bis zu Tagen variieren. Typisch für territoriale Aggression ist das plötzliche Auftreten, meist mit Erreichen der sozialen Reife (ca. 1,5 Jahre), und sie wird oft in Kombination mit dem Verteidigen des Sozialpartners gezeigt.
2. Ressourcenbedingte Aggression
Ressourcenbedingte Aggression bezieht sich auf die Verteidigung von für das Individuum wichtigen Dingen wie Futter, Plätzen oder Spielzeugen.
3. Angstbedingte Aggression
Angstbedingte Aggression tritt auf, wenn sich ein Hund bedroht fühlt. Sie spielt auch bei anderen Formen der Aggression eine Rolle.
4. Erkrankungsbedingte oder schmerzbedingte Aggression
Erkrankungsbedingte oder schmerzbedingte Aggression zeigt sich aufgrund der körperlichen Verfassung eines Hundes. Hierbei kann es zu einer erhöhten Reizbarkeit oder einer Fehlverknüpfung eines Reizes mit Schmerzen kommen.
5. Hormonell bedingte Aggression
Hormonell bedingte Aggression zeigt sich häufig bei gleichgeschlechtlichen Tieren, dazu gehört auch die mütterliche Aggression bei der Scheinmutterschaft oder bei der Verteidigung der Welpen.
6. Frustrationsbedingte Aggression
Frustrationsbedingte Aggression wird meist in Zusammenhang mit Barrieren wie Zäunen, Leinen oder Gittern gezeigt. Der Hund wird daran gehindert, sich einem auslösenden Reiz anzunähern, was zu Frustration führt. Frust kann allerdings auch in anderen Situationen entstehen, wie zum Beispiel in überfordernden Trainingssituationen oder im alltäglichen Miteinander.
7. Umgerichtete Aggression
Umgerichtete Aggression kann gegenüber einem unbeteiligten Dritten (Hund, Mensch oder anderes Tier) auftreten, wenn das eigentliche Ziel unerreichbar ist und eine hohe Erregungslage in Kombination mit Frustration besteht.
Defensive und offensive Aggression bei Hunden
Defensive Aggression tritt auf, wenn ein Hund sich bedroht fühlt und versucht, sich zu verteidigen. Sie ist gekennzeichnet durch eine vergrößerte Maulspalte, wodurch viele Zähne sichtbar werden. Die Gelenke sind eingeknickt, der Kopf abgesenkt und unterhalb der Rückenlinie positioniert. Die Ohren sind nach hinten gerichtet, die Augen erscheinen mandelförmig vergrößert, und oft ist das Weiße des Auges sichtbar (sogenanntes "Walauge"). Der Körperschwerpunkt verlagert sich nach hinten, und die Rute wird tendenziell tief getragen.
Im Gegensatz dazu ist offensive Aggression durch angehobene Lefzen gekennzeichnet, wobei durch die nach vorne geschobenen Mundwinkel hauptsächlich die vorderen Zähne sichtbar werden. Der Nasenrücken ist gekräuselt, der Kopf wird angehoben, und die Ohren sind nach vorne ausgerichtet. Der Blick ist starr und fixierend. Der Körperschwerpunkt verlagert sich nach vorne, die Beine sind gestreckt und durchgedrückt, die Rute wird erhöht getragen.
Zwischen diesen beiden Aggressionsformen gibt es fließende Übergänge und Mischmotivationen. Drohverhalten kann sich im Laufe der Zeit verfestigen und sicherer werden. Selbst wenn es ursprünglich aus Unsicherheit oder Angst heraus entstanden ist, kann es zunehmend ritualisiert auftreten, wodurch die zugrunde liegende Emotion schwer zu identifizieren ist.
Stressreaktionen bei Hunden: Die "4 F's"
Hunde zeigen verschiedene Verhaltensweisen, wenn sie sich bedroht oder unwohl fühlen. Diese werden als die "4 F's" beschrieben:
- Freeze (Erstarren) – eine kurzfristige Inaktivierung des Verhaltens.
- Fiddle (Herumalbern/Flirten) – übersprunghafte oder spielerische Verhaltensweisen als Beschwichtigung.
- Fight (Kampf) – aggressive Reaktionen zur Abwehr der Bedrohung.
- Flight (Flucht) – das aktive Vermeiden der Stresssituation.
Ein fünftes "F", Faint (Ohnmacht oder erlernte Hilflosigkeit), wird zunehmend diskutiert. Es beschreibt eine vollständige Verhaltensaufgabe, die beispielsweise nach langanhaltender aversiver Erfahrung auftreten kann. Diese Reaktionsmuster können ineinander übergehen, wobei das Erstarren oft eine kurzfristige Vorstufe für eine nachfolgende Verhaltensweise ist. Ein Hund kann also zunächst erstarren und dann entweder kämpfen oder fliehen.
Rassebedingte Unterschiede in Stressreaktionen
Bestimmte Rassen wurden züchterisch auf spezifische Stressreaktionen selektiert. Retriever neigen beispielsweise eher zu "Fiddle about"-Verhalten, also beschwichtigenden oder spielerischen Reaktionen, während Gebrauchshunde wie der Deutsche Schäferhund eher kämpferische Strategien zeigen. Dennoch können Hunde aller Rassen das gesamte Spektrum an Verhaltensweisen zeigen. Diese Variabilität muss berücksichtigt werden, wenn wir aggressives Verhalten richtig erkennen und interpretieren wollen.
Aggression als erlerntes Verhalten
Aggressives Verhalten, das einem Hund bereits Erfolg verschafft hat, wird häufiger gezeigt und kann sich ritualisieren. Verhaltenstraining kann alternative Strategien etablieren und die emotionale Reaktion des Hundes langfristig verändern.
Einflussfaktoren auf Aggressionsverhalten sind unter anderem:
- Epigenetik: Umweltfaktoren wie Stress oder Trauma während der frühen Entwicklung können die Genexpression beeinflussen. Auch Stress beim Muttertier während der Trächtigkeit kann zur erhöhten Reaktivität der Nachkommen beitragen.
- Frühe Erfahrungen: Hunde, die in einer bedrohlichen Umgebung aufwachsen, können von Beginn an darauf eingestellt sein, überlebenswichtige Strategien wie Misstrauen und defensive Reaktionen auszubilden.
- Lernprozesse: Fehlende Bedürfnisbefriedigung, genetische Veranlagung, Erziehungsstil (insbesondere der Einsatz aversiver Methoden), Lebensumstände sowie Prägung und frühere Lernerfahrungen beeinflussen das Verhalten eines Hundes maßgeblich.
Das Verständnis der Körpersprache ist essenziell für die richtige Interpretation von Aggressionsverhalten. Nur wenn wir kleinste Anzeichen von Stress frühzeitig erkennen, können wir rechtzeitig gegensteuern. Andernfalls besteht das Risiko, dass das Training scheitert, weil die Eskalation bereits zu weit fortgeschritten ist.
Ein weiteres Problem besteht in der Schuldzuschreibung gegenüber Hundehaltern. Viele Besitzer werden als "nicht souverän genug" oder "nicht konsequent genug" dargestellt und erhalten den Rat, mit mehr Härte oder aversiven Methoden vorzugehen. In meiner Arbeit als Tierärztin mit Spezialisierung auf Verhaltensmedizin sehe ich jedoch häufig sehr kompetente Menschen, die dennoch mit der Begleitung ihres reaktiven Hundes große Probleme haben.
Hunde, die aus Regionen stammen, in denen Misstrauen und defensive Strategien überlebenswichtig sind, behalten diese Verhaltensweisen oft auch in einer neuen Umwelt bei. Selbst wenn ein solcher Hund frühzeitig in eine sichere Umgebung gebracht wird, kann er weiterhin ängstlich oder misstrauisch reagieren, ohne dass ihm jemals direkt Schlechtes widerfahren ist. Zusätzliche negative Erfahrungen oder eine unzureichende Sozialisierung verstärken dieses Verhalten. Umgekehrt gibt es Hunde, die trotz traumatischer Erlebnisse ein offenes und freundliches Wesen entwickeln. Hunde zeigen Aggressionsverhalten nicht, weil sie "dominant" oder "respektlos" sind, sondern weil sie sich in einer für sie unlösbaren Situation befinden. Besonders in der heutigen Gesellschaft werden Hunde oft in Lebensumstände gebracht, für die sie evolutionär und genetisch nicht geeignet sind. Die Anforderungen an einen „Bürohund“ oder einen „Stadthund“ übersteigen häufig die natürlichen Bewältigungsstrategien des Tieres. Durch unzureichende Sozialisierung und fehlende Anpassungsmöglichkeiten geraten diese Hunde immer wieder in ausweglose Konfliktsituationen, die sowohl für das Tier als auch für den Halter zur Frustration führen und langfristig die Beziehung belasten.
Ein weiteres Problem stellt eine große Anzahl an Hundetrainer: innen dar, die aversive Trainingsmethoden anwenden. Ohne über die notwendige verhaltensmedizinische Expertise zu verfügenist die Behandlung solcher Probleme nicht möglich. Aggressionsverhalten hat häufig tiefgreifende emotionale und physiologische Ursachen, die nicht durch Bestrafung oder Unterdrückung des Verhaltens gelöst werden können. Aversive Maßnahmen führen oft lediglich zu einer kurzfristigen Hemmung des unerwünschten Verhaltens, ohne die zugrunde liegende Ursache zu behandeln. Dadurch wird das Problem nicht gelöst, sondern lediglich unterdrückt, was zu einer erhöhten Stressbelastung des Hundes führt. Die Gefahr, dass sich das Verhalten in einer unkontrollierbaren oder sogar gefährlicheren Weise entlädt, ist dabei erheblich.
Ein fundierter und tiergerechter Umgang mit Aggressionsverhalten erfordert eine präzise Analyse der individuellen Vorgeschichte, der genetischen Disposition und der Umweltfaktoren des Hundes. Eine differenzierte Diagnostik durch spezialisierte Fachkräfte ist essenziell, um nachhaltige Lösungsansätze zu entwickeln. Moderne Verhaltenstherapie setzt auf eine Kombination aus Managementmaßnahmen, gezieltem Training mit positiver Verstärkung und einer Anpassung der Umwelt, um dem Hund alternative Bewältigungsstrategien anzubieten.
Die Entwicklung eines individuellen Temperaments ist ein hochkomplexer, multifaktorieller Prozess. Die Annahme, dass allein das „andere Ende der Leine“ für das Verhalten eines Hundes verantwortlich ist, greift daher zu kurz. Vielmehr müssen wir das Zusammenspiel von genetischen, epigenetischen und umweltbedingten Faktoren berücksichtigen, um problematisches Verhalten angemessen zu analysieren und zu behandeln.
Über die Autorin: Janina Rohde ist Tierärztin mit langjähriger Erfahrung in verschiedenen Kliniken Nordrhein-Westfalens. Nach ihrem Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München spezialisierte sie sich auf Verhaltensmedizin und führt seit Oktober 2024 ihre eigene Praxis (Tierarztpraxis Hollunder & Rohde GmbH) in Hürth. Neben der Inneren Medizin liegt ihr Fokus auf der Verhaltenstherapie. Ihr Engagement für den Tierschutz zeigt sich in der Gründung des gemeinnützigen Vereins „TIERisch MENSCHlich e.V.“, der sich für den Schutz und die medizinische Versorgung von Tieren im In- und Ausland einsetzt. Der Verein organisiert Hilfsprojekte, vermittelt Tierschutztiere in ein liebevolles Zuhause und bietet Aufklärungsarbeit rund um artgerechte Haltung und Verhalten von Haustieren. Zusätzlich gründete Sie die Hundeschule „Rudelspezialisten“, in der sie ihr Fachwissen aus der Tierverhaltenstherapie mit modernem Hundetraining kombiniert. Hier steht eine ganzheitliche, individuell angepasste Ausbildung für Hunde und ihre Besitzer im Mittelpunkt
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